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Wir haben bis jetzt nur erwogen, was ohne weiteres aus den Grundtatsachen der modernen Vererbungslehre zur Sache folgt. Jetzt müssen noch einige Vererbungsbesonderheiten besprochen werden, die wiederum anfänglich schwer verständlich waren auf Grund der Mendelschen Gesetze. Da der Bienenzüchter mit solchen Besonderheiten offenbar züchterisch sich herumschlagen muß, dürfen sie nicht übergangen werden.
Wir fanden: Ein einziger Erbfaktor kann seine Wirkung auf verschiedene Außenmerkmale des Individuums ausüben. Da kommt es aber auch umgekehrt vor, daß eine einzige Eigenschaft von mehreren Erbfaktoren bewirkt wird oder doch von mehreren abhängig ist. Wiederum sind es die Zahlenproportionen bei der Aufspaltung, die uns davon die erste Kunde geben. Diese Proportionen können so verändert sein, daß man eine Aufspaltung fürs erste niemals wiedererkennt (Levkojenbeispiel). Dann kann statt weniger, scharf getrennter Typen jetzt zwar auch eine Mannigfaltigkeit erscheinen, aber eine solche, die sich nicht in „ Typen “ gruppieren, sondern höchstens zu einer Reihe mit allen Übergängen aneinanderfügen läßt (Weizenbeispiel). Es ließ sich aber auch in diesem Falle zeigen, daß die Genotypen nach Gruppen wohl zu unterscheiden sind, und die alten Mendelschen Zahlenverhältnisse zwischen diesen Gruppen bestehen.
Statt vieler Worte ein Beispiel mit Levkojen, Matthiola annua, das dem hervorragenden Lehrbuch Baurs entnommen ist. An diesem Beispiel ist also für uns neu, daß eine Farbe, nämlich Rot, von mehreren Faktoren bewirkt wird, daß z.B. der Faktor R (Anlage für Rot) für sich allein unwirksam ist und nur zur Geltung kommen kann, wenn ein anderer Faktor G (Grundfaktor für Farbe überhaupt) vorkommt. Die Farbe Rot ist also abhängig von mindestens zwei Faktoren, nämlich G und R. Ein dritter Farbenfaktor V verwandelt Rot nachträglich in Violett. Die Eigenschaft Violett hinge demnach von drei Faktoren ab: 1. von G (Grundfaktor für Farbe überhaupt), 2. von R, das der Grundfrage die Ausprägung Rot gibt, 3. von V, das dann Rot noch umprägt in Violett [Pflanzen mit gg sind also weiß, Pflanzen mit GG allein (ohne R und V) sind gelblich.]. Ein weiterer Faktor H (Faktor für Haare auf den Blättern) ist wiederum nur wirksam merkwürdigerweise, wenn G und R schon vorhanden sind: behaarte Blätter hängen also in gewissem Sinne von den drei Faktoren G R H ab, und behaarte Pflanzen haben also immer eine ganz bestimmte Blüte, ein neues lehrreiches Beispiel einer Eigenschaftsverkoppelung (S. o. Kap. 33).
P | ggRRVVHH unbehaart weiß |
GGrrVVHH unbehaart gelblich |
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F1 | GgRrVVHH behaart violett |
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F2 |
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Erg- ebnis |
9 behaart violett |
: | 3 unbehaart gelblich |
: | 4 unbehaart weiß |
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Abb. 18. Levkojenbeispiel. |
Wenn wir mit Baur eine Kreuzung ausführen zwischen einer unbehaarten weißen Pflanze (ggRRVVHH) und einer unbehaarten gelblichen (GGrrVVHH), dann liegt der Fall von Doppelbastardierung vor, denn nur in den zwei Eigenschaften GR unterscheiden sich die P-Pflanzen. In den Merkmalen VVHH unterscheiden sie sich zwar nicht, beide Faktoren sind hier wie dort vorhanden, wenn sie auch in den P-Pflanzen gar nicht wirksam sein können. Erst später bekommen sie Gelegenheit, ihren Einfluß auszuüben und den Züchter fürs erste in die größte Verlegenheit zu bringen. Obwohl Doppelbastardierung vorliegt, unterscheiden sich die beiden P-Pflanzen nur in einer einzigen Eigenschaft, nämlich Gelb-Weiß, ein geringfügiger Unterschied! (Zum Folgenden vgl. Abb. 18 o. S. 79.)
F1 ist etwas ganz Neues, schlägt der Mendelei sozusagen ins Gesicht, denn es liegt weder eine Mittelweg- (intermediäre) Vererbung vor, noch eine Entweder-Oder-Vererbung. Zudem treten gleich zwei neue Eigenschaften auf, das befremdende Violett und dazu noch die Behaarung sämtlicher Laubblätter.
F2 gar mit den drei Typen (trotz vorherrschender Dominanz!), mit der Verkettung von Violett und Behaarung, mit dem Vorherrschen der Eigenschaften Violett-Behaart, die in den P-Pflanzen gar nicht zu finden waren, endlich mit dem Spaltungsverhältnis 9 : 3 : 4, statt 9 : 3 : 3 : 1 (vergleiche zum Ganzen das Meerschweinchenbeispiel !) muß den Gedanken hervorrufen, es gibt außer der Mendelschen auch noch andere Vererbungsweisen.
Der kundige Leser aber, der im Besitze des Schlüssels ist, der von den vier Faktoren weiß, mit ihren ganz gesetzmäßigen Abhängigkeiten (der Zusammenhang Rot-Violett ist chemisch sehr leicht zu verstehen!), sieht in dem Fall eine schöne Bestätigung für die Mendelsche Entdeckung.
Ob die Biene den Vererbungsforschern auch solche Kunststücke vormachen und solch schönen Übungsstoff abgeben kann zum Mendeleistudium? Wir wissen es noch nicht. Trotzdem ist es für den fortschrittlichen Imker-Züchter gut, den Fall sich näher anzusehen. Es zeigt ihm, daß es nicht ausgeschlossen ist,
... neue Eigenschaften herauszuzüchten aus einem Material, das nichts weniger als einladend aussieht.
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Mit dem letzten theoretischen Sonderfall, den wir zu besprechen haben, hat es eine andere Bewandtnis; er verspricht, wenn nicht alle Zeichen trügen, auch bei der Biene vorzukommen. Zum Unterschied zum Levkojenfall kann es vorkommen, daß ein und dieselbe Eigenschaft von mehreren Faktoren abhängt, jedoch so, daß jeder für sich allein schon die genannte Eigenschaft verursacht.
So verhält es sich bei der roten Kornfarbe bei einer Weizensippe nach Nilsson-Ehle.
Wenn wir auf der Tabelle S. 67 in jedem der drei großen Buchstaben R, N, H einen Faktor für Rot sehen würden, von denen jeder für sich schon Rot bewirkt, dann würde von den 64 F2-Pflanzen nur eine einzige nicht-rote, also weißliche Weizenkörner liefern: die Pflanze rrnnhh unten rechts. Denn in allen übrigen kommen große Buchstaben vor, am meisten in den Feldern oben links, am wenigsten in den Feldern unten rechts. Daß eine Pflanze wie die von der Formel RRNNHH (also sozusagen mit sechs Rotfaktoren) am dunkelsten rot gefärbt ist, wundert uns nicht. Daß eine Pflanze wie rrnnHh zwar noch rot gefärbt ist, aber sehr viel schwächer als die vorhergenannten, und daß eine Pflanze mit drei Rotfaktoren, etwa RrNnHh oder auch RRNnhh oder auch rrNnHH, in der Mitte steht zwischen den vorhergenannten Extremen, ist leicht begreiflich. Kurz, die F2-Pflanzen des genannten Falles zeigen alle Übergänge von Dunkelrot bis Hellrot; die einzig vorhandene deutlich farblose mag, wenn es gut geht, einigermaßen deutlich von den übrigen unterschieden werden, unter allen übrigen aber ist eine Einteilung in Gruppen und ein Abzählen der Gruppenvertreter, also die Aufstellung eines Aufspaltungsverhältnisses, sozusagen unmöglich. Gesetzt den Fall, die einzig farblosen Körner weiden übersehen (was gewiß sehr wohl vorkommen kann), dann sieht dies Ergebnis vollständig anders aus als eine Mendelaufspaltung mit ihren Typengruppen und schönen Zahlenverhältnissen.
Daß trotzdem eine schöne Mendelspaltung vorliegt, zeigen die Genotypen auf dem Papier und die Inzuchtnachkommen der einzelnen F-Pflanzen. Wenn wir zwei blaßrote Lebewesen von der Formel rrnnHh mit glücklichem Griff zur Weiterzucht auswählen, bekommen wir, wie der Leser mit Hilfe des Schachbrettschemas oder durch einfache Überlegung finden kann, von 4 Nachkommen 1 weiße Pflanze und 3 ziemlich blaßrot, von welch letzteren nur eine rein blaßrot sich weiterpflanzt (rrnnHH).
In der Fachsprache sagt man, diese rote Farbe der Weizenkörner sei ein polymeres Merkmal, auf deutsch ein vielteiliges Merkmal, weil auf vielen Erbteilen, Erbfaktoren, beruhend.
Im Tierreich liegt ein ähnlicher Fall vor: wahrscheinlich ist die Ohrenlänge der Kaninchen ein polymeres Merkmal. Man erhält dort in F2 alle möglichen Übergänge zwischen den einzelnen Ohrenlängen.
Gerade an dieser Stelle empfiehlt es sich, an früher Besprochenes zu erinnern, daß nämlich zwei Organismen, die genotypisch (der Erbanlage nach) vollständig gleich sind, im fertigen Zustand doch mehr oder weniger sich voneinander unterscheiden, weil die Lebenslage bei der Ausgestaltung der Erbanlagen, also bei der Ausprägung des Phänotypus, ein Wort mitzusprechen hat, und weil demgemäß die Erbanlagen nicht eine ganz bestimmte starre Eigenschaft vererben, sondern, wie wir uns früher ausdrückten, einen gewissen Spielraum innerhalb der betreffenden Eigenschaft (Beispiel von der rot und weißblühenden Primel).
Dadurch werden die an sich schon geringen Grenzen zwischen den 63 Gruppen der rötlichen Weizenkörner oder Kaninchen-Ohrenlängen noch mehr vermischt und jede Möglichkeit genommen, eine Aufspaltung zu erkennen.
Leider sieht es bis jetzt ganz danach aus, als ob möglicherweise der Imker-Züchter mit dieser praktisch wenig erfreulichen Sache der Polymerie sich abquälen muß, wenigstens beim Vererbungsstudium der Bienenfarben.
Der Imker weiß zu gut, daß es erblich total schwarze Bienen und erblich extrem helle Bienen gibt, aber dazwischen gibt es ebenso sicher alle Übergänge, wobei die Übergangsstadien im Gegensatz zum Fall der Primel erblich sind, wie gewisse mittlere Kaninchen-Ohrenlängen oder mittleres Rot bei Weizenkörnern.
Es ist klar, daß bei polymerer Vererbung es sehr schwer ist, besonders bei mittleren Typen, vom Phänotypus auf die Erbformel zu schließen, etwa Geschwisterindividuen von gleicher Erbformel auszusuchen. Am leichtesten ist das Sichten extremer Typen, und zwar beim Beispiel der Weizenkörner (wahrscheinlich auch bei den Bienen) das Herausfindendes hellsten Typus, nicht jedoch des dunkelsten Typus.
Bei der Mendelvererbung, wo deutliches Aufspalten nicht in die Erscheinung tritt (polymerer Vererbung) ist das Sichten oft nur leicht hinsichtlich des einen Extrems (bei der Biene wahrscheinlich hinsichtlichder hellen Farbe).